Kaffeeküchenpolitik

Die Beziehung zwischen Pflege und Ärzt:innen ist so ein Thema für sich. Sie wird entweder idealisiert oder totgeschwiegen. Am liebsten aber diskutiert man sie im Kaffeezimmer – unter sich natürlich. Pflege mit Pflege, Ärzt:innen mit Ärzt:innen. Die Blicke über den Stationsgang hinweg – mal genervt, mal bewundernd, mal müde – erzählen aber oft eine ganz andere Geschichte. Eine, die selten laut ausgesprochen wird, aber allen bekannt ist. Dabei geht es hier nicht um zwei konkurrierende Professionen, sondern im besten Fall um eine funktionierende, interprofessionelle Einheit.

Und genau daran hapert es oftmals. Aber lasst uns mal genauer anschauen, warum ein nahtloses Zusammenspiel für beide Seiten so wichtig ist und wie wir diesen fast schon utopischen Wunsch erreichen können.


Dr. Magdalena Riederer
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Ingrid Riederer ist diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegerin. Seit Jahrzehnten ist die Intensivstation ihr zweites Zuhause. Ihre Tochter, Dr. Magdalena Riederer, ist Medizinerin. Auf ihrer Plattform HealthHeld informiert sie über sensible Gesundheitsthemen, um Betroffenen informierte Entscheidungen zu ermöglichen und einen chancengerechten Zugang zu Behandlungswegen zu schaffen.

Pflegepersonen erleben es täglich: Der Arzt huscht vorbei, ein kurzer Blick in die Akte, eine schnelle Anordnung, dann geht es weiter. Fragen? Keine Zeit. Rückfragen? Nicht erwünscht. Dabei hat sich Patient X heute völlig anders verhalten als gestern. Isst kaum, atmet flacher, wird zunehmend desorientiert. Aber das hat niemand gefragt.

Gleichzeitig erleben junge Ärzt:innen ein anderes Szenario: Gerade auf Station angekommen, sollen sie über Menschen urteilen, die sie kaum kennen. Die Pflege weiß längst mehr, doch niemand fragt sie. Und dann steht man da, mit dem weißen Kittel, dem Titel, der Erwartung, alles zu wissen – und dem Gefühl, nicht ernst genommen zu werden, sobald man sich an die Pflege wendet.

Pflegewissen als Erfahrungswissen, nicht Erfahrungsbericht

Das Problem beginnt beim Verständnis von Wissen selbst. Medizinisches Wissen gilt als objektiv, messbar, „wissenschaftlich“. Pflegewissen dagegen wird oft als weich, emotional oder rein erfahrungsbasiert gesehen – als würde es sich nicht genauso auf Beobachtung, Mustererkennung und systematische Einschätzung stützen.

Dabei erkennt eine gute Pflegekraft Delirium, Schmerz, Überforderung oder beginnende Dekompensation oft viel früher als jeder Laborwert. Nicht, weil sie hellsehen kann, sondern weil sie den Menschen täglich sieht. Und das nicht nur im Moment der Visite, sondern 24/7. In Bewegung, im Schlaf, im Gespräch, im Schweigen. Diese Art von Wissen hat aber kaum Lobby. Ein Grundsatzproblem.

Zwischen Hierarchie und Realität

Trotz aller Reformen ist das Bild in vielen Kliniken gleich: Die ärztliche Visite betritt das Zimmer, spricht laut über den Kopf des Patienten hinweg, bespricht „den Fall“, während die Pflege im Türrahmen steht – oder gar nicht anwesend ist. Ihre Notizen bleiben ungelesen. Schönschrift hin oder her. Ihre Hinweise werden ignoriert oder mit einem Nicken quittiert, das nichts ändert.

Auf der anderen Seite: Stationsärzt:innen, die täglich durch Unterbesetzung, Zeitdruck, Dokumentationsflut und Verantwortungsdruck taumeln. Die sich wünschen würden, von der Pflegeperson Rückmeldung zu bekommen, aber bei der dritten unterbrochenen Frage aufgeben, weil das Telefon klingelt, der Oberarzt ruft oder der nächste Notfall wartet.

Beide Seiten wissen: So geht es nicht weiter. Aber es fehlt der Raum, die Zeit und vor allem die Struktur, um daran etwas zu ändern.

Wenn Verantwortung zu einseitig verteilt wird

Einer der größten Fehler im Stationsalltag ist die ungleiche Verteilung von Verantwortung. Pflegefachpersonen tragen enorme Verantwortung und das nicht nur auf menschlicher und organisatorischer Ebene. Auch medizinisch lastet ein Gewicht auf ihnen. Gleichzeitig haben sie  aber formal kaum Entscheidungsgewalt. Ärzt:innen dagegen tragen die formale Verantwortung – auch für Entscheidungen, für die sie keine vollständige Informationsgrundlage haben.

Das schafft Unsicherheit auf beiden Seiten. Und befeuert einen Teufelskreis: Pflege übernimmt mehr, ohne es zu dürfen. Medizin übernimmt mehr, ohne es zu können. Unterm Strich leiden beide an der Angst, zur Rechenschaft gezogen zu werden, sei es für Unterlassung oder für Überschreitung von Kompetenzen.

Ausbildung: Zwei Welten, ein System

Schon in der Ausbildung beginnt die Trennung. Pflegeschulen vermitteln Praxisnähe, ganzheitliche Betrachtung und klinisches Feingefühl, aber in der Regel auch wenig Entscheidungsfreiheit. Medizinstudierende werden mit Theorie überflutet, oft fern der Realität, fern der Station, manchmal gar fern der Patient:innen. Früh werden sie damit konfrontiert Entscheidungsträger zu sein und was ihre Entscheidungen für Ausmaß haben können. Ja, im Grunde lernen sie Entscheidungen zu treffen, ohne je Zuhören zu lernen – abseits vom Patienten versteht sich.

Gemeinsame Lernformate? Kaum vorhanden. Und wenn, dann meist als symbolische Übung ohne Konsequenz für die spätere Realität. Simulationen? Gibt es. Aber nur für Patientengespräche. 

Wirft man einen Blick in Studien, so zeichnet sich jedoch ein sehr eindeutiges Bild: Gemeinsames Lernen fördert gegenseitiges Verständnis, reduziert Vorurteile und verbessert die spätere Zusammenarbeit signifikant. Das setzt aber auch voraus, dass man interprofessionelles Lernen nicht als freiwilligen Zusatz versteht, sondern als integralen Bestandteil der Ausbildung.

Systemisch verankertes Gegeneinander

Vieles, was im Alltag wie persönliches Versagen aussieht, ist in Wahrheit strukturelles Versagen. Lasst uns das an ein paar Beispielen verdeutlichen: 

  • Dienstzeiten und Schichtmodelle, die keine gemeinsamen Übergaben ermöglichen.
  • Stationsorganisation, die Pflege und Medizin auf getrennte Kommunikationsstränge zwingt.
  • IT-Systeme, in denen Pflegebeobachtungen nicht ärztlich sichtbar sind und ärztliche Entscheidungen die Pflege nicht erreichen.
  • Abrechnungssysteme, die Leistung an Einzelpersonen knüpfen statt an Teams.

Das alles ist kein Zufall. Sondern das Produkt eines Gesundheitssystems, das Menschen in Funktionen zwängt, statt sie in ihren Rollen zu stärken.

Gender, Macht und das alte Bild von Pflege

Pflege ist weiblich konnotiert. Medizin männlich. Auch heute noch. Und auch wenn es mittlerweile Ärztinnen, Pfleger und divers besetzte Teams gibt – die alten Rollenmuster wirken nach. Pflege als „helfender Beruf“. Ärzt:innen als „heilende Autorität“. Diese Vorstellung prägt Verhalten – unbewusst, aber wirksam. So wirksam, dass man auch heute noch als Ärztin regelmäßig von Patient:innen ganz automatisch als „Schwester“ angesprochen werden und als Pfleger zum „Herrn Doktor“ wird.

Doch was bedeutet das für das Miteinander? Es prägt uns und unsere Erwartungshaltungen. Wie wir uns gegenseitig sehen und wir miteinander sprechen. Pflegepersonen, die auf Augenhöhe kommunizieren wollen, gelten schnell als „vorlaut“. Ärzt:innen, die Unsicherheiten äußern, als „nicht durchsetzungsstark“. Und beide verlieren, wenn sie versuchen, diesen Mustern zu entkommen.

Wer eine neue Teamkultur will, muss auch diese unausgesprochenen Normen benennen und sie gezielt durchbrechen. Denn ein Satz wie „Danke für den Hinweis, das habe ich übersehen“ ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von Reife. Umgekehrt, wenn eine Pflegeperson fragt: „Kann es sein, dass hier was kippt?“, ist das keine Einmischung, sondern kollegiale Sorge.

Konkret gedacht

Trotz aller Probleme: Es gibt sie. Stationen, Teams, Häuser, die es anders machen. Wir möchten hier nicht nur Probleme aufzeigen, sondern auch Lösungen mitgeben. Daher nun einige Ansätze, die funktionieren und definitiv einen Umsetzungsversuch wert sind:

  • Gemeinsame Fallbesprechungen: Nicht nur bei komplexen Fällen, sondern als Regel; nicht „on top“, sondern als festes Element im Tagesablauf. 
  • Shared Decision Making: Entscheidungen über Therapien werden gemeinsam mit Pflege, Medizin und Patient:innen getroffen. Das Stichwort ist interprofessionelle Visite.
  • Pflegeexpert:innen mit erweiterter Rolle: Sogenannte „Advanced Practice Nurses“, die eigenverantwortlich handeln und dabei Rückhalt im Team haben. 
  • Feedbackformate ohne Angst: Eine Rückmeldekultur, in der Kritik geäußert und angenommen werden darf, unabhängig vom Berufsstand. Anonyme Rückmeldungen, Reflexionsrunden, Supervision.
  • Interprofessionelle Simulationstrainings: Hier wird nicht nur Wissen geübt, sondern Zusammenarbeit.

Die Erkenntnis aus all dem: Es geht nicht um mehr Kommunikation. Es geht um bessere Kommunikation. Und um die strukturelle Verankerung einer neuen Haltung: Zusammenarbeit ist keine Kür – sie ist Pflicht.

Schlussgedanken

In der Hektik des Stationsalltags geht schnell verloren, worum es eigentlich geht, nämlich um die Menschen im Bett. Unsere Patient:innen. Sie interessieren sich nicht für Berufsstände, Zuständigkeiten oder Befindlichkeiten. Sie wollen, dass sich alle kümmern. Gemeinsam. Gut abgestimmt. Wertschätzend.

Und genau das ist möglich. Wenn gegenseitiger Respekt nicht von Hierarchie abhängt. Wenn Pflegewissen denselben Stellenwert bekommt wie medizinisches. Wenn Ärzt:innen Fragen stellen dürfen, ohne Autoritätsverlust, und Pflegepersonen Vorschläge machen dürfen, ohne belehrt zu werden.

Es braucht keinen neuen Teamtag mit Flipchart und Sesselkreis. Sondern ein echtes Umdenken. Weniger „wer darf was“ – mehr „wer weiß was“. Weniger „Anordnung“ – mehr „Austausch“. Weniger Distanz – mehr Vertrauen. Denn nur wer sich gegenseitig ernst nimmt, kann gemeinsam besser werden und in Symbiose arbeiten. 

zum weiterlesen

  • Cockerham, William C. (2020). Medical Sociology. Routledge.
  • Poghosyan L, Maier CB. Advanced practice nurses globally: Responding to health challenges, improving outcomes. Int J Nurs Stud. 2022 Aug;132:104262. doi: 10.1016/j.ijnurstu.2022.104262. Epub 2022 Apr 26. PMID: 35633596; PMCID: PMC9040455.
  • Reeves S, Fletcher S, Barr H, Birch I, Boet S, Davies N, McFadyen A, Rivera J, Kitto S. A BEME systematic review of the effects of interprofessional education: BEME Guide No. 39. Med Teach. 2016 Jul;38(7):656-68. doi: 10.3109/0142159X.2016.1173663. Epub 2016 May 5. PMID: 27146438.
  • Reeves S, Pelone F, Harrison R, Goldman J, Zwarenstein M. Interprofessional collaboration to improve professional practice and healthcare outcomes. Cochrane Database Syst Rev. 2017 Jun 22;6(6):CD000072. doi: 10.1002/14651858.CD000072.pub3. PMID: 28639262; PMCID: PMC6481564.
  • Wei H, Corbett RW, Ray J, Wei TL. A culture of caring: the essence of healthcare interprofessional collaboration. J Interprof Care. 2020 May-Jun;34(3):324-331. doi: 10.1080/13561820.2019.1641476. Epub 2019 Aug 8. PMID: 31390903.
  • Wei H, Horns P, Sears SF, Huang K, Smith CM, Wei TL. A systematic meta-review of systematic reviews about interprofessional collaboration: facilitators, barriers, and outcomes. J Interprof Care. 2022 Sep-Oct;36(5):735-749. doi: 10.1080/13561820.2021.1973975. Epub 2022 Feb 6. PMID: 35129041.