Einleitung: Kultur entscheidet
Professionelle Pflege ist mehr als Versorgung – sie ist Beziehung. Und wo Beziehung geschieht, wirkt Kultur. Während politisch über Fachkräftemangel, Digitalisierung und neue Kompetenzen diskutiert wird, vollzieht sich in vielen Organisationen ein leiser, aber grundlegender Wandel: der Umbau ihrer Unternehmenskultur. Dabei zeigt sich zunehmend: Es sind nicht allein Prozesse, Ressourcen oder Strukturen, die gute Pflege ermöglichen – es ist die Haltung der Menschen, die darin arbeiten. Diese Haltung wiederum entsteht nicht im luftleeren Raum. Sie wird geprägt durch das Wertesystem, durch Führung, durch alltägliche Erfahrung und durch die Kultur, in der Pflege stattfindet.

Was ist Unternehmenskultur – und warum ist sie so entscheidend?
Unternehmenskultur ist das, was bleibt, wenn man alles Organisatorische weglässt. Sie zeigt sich nicht in Organigrammen oder hübschen Leitbildern, sondern in gelebten Verhaltensmustern. Sie bestimmt, wie sich Menschen begegnen, wie Entscheidungen getroffen, wie Konflikte gelöst, wie Kommunikation gestaltet wird. Kultur prägt, wie sicher oder unsicher sich Menschen fühlen, wie viel Verantwortung sie übernehmen – und ob Veränderung als Bedrohung oder als Chance wahrgenommen wird. Kultur wirkt immer – bewusst oder unbewusst. Sie kann fördern oder verhindern, motivieren oder lähmen. Daher ist Kulturarbeit keine Option – sie ist eine Notwendigkeit, wenn Organisationen in einer komplexen Welt zukunftsfähig bleiben wollen.
Der kulturelle Regelkreis: Sinn – Werte – Haltung – Verhalten
Eine glaubwürdige Unternehmenskultur lebt von der Übereinstimmung zwischen dem, was gesagt, gedacht und getan wird. Dieses Spannungsfeld beschreibt der kulturelle Regelkreis. Um wirklich tragfähig zu sein, braucht dieser Regelkreis eine sinnstiftende Basis:

- Sinn – Warum bin ich hier? Wozu tun wir das, was wir tun?
- Werte – Was ist uns wichtig?
- Haltung – Wie stehen wir dazu?
- Verhalten – Was tun wir im Alltag?
- Kultur – Wie wirkt das auf das Ganze zurück?
Sinn – Warum bin ich hier? Wozu tun wir das, was wir tun?
Sinn ist die tiefste Schicht jedes professionellen Handelns – er beantwortet nicht die Frage was oder wie, sondern wozu. In Organisationen stiftet er Orientierung, verbindet Menschen mit einem gemeinsamen Ziel und schafft ein übergeordnetes Verständnis dafür, warum es sich lohnt, sich einzubringen. In der Pflege ist der Sinn nicht etwas, das künstlich erzeugt oder außen an sie herangetragen werden müsste – im Gegenteil: Sinn ist der Profession Pflege immanent. Wer pflegt, wirkt unmittelbar an der Gestaltung von Leben mit. Pflege begleitet Menschen in verletzlichen Lebenssituationen, sie schützt, stärkt und unterstützt – fachlich, ethisch und menschlich. Sinn in der Pflege zeigt sich:
- Im Unterstützen von Leben, indem Pflegebedürftige in ihrer Selbstbestimmung und Lebensqualität gefördert werden –
unabhängig von Alter, Erkrankung oder Einschränkungen. - Im Begleiten, besonders in existenziellen Phasen, in Krisen, Übergängen oder im Sterben – präsent, empathisch und zugewandt.
- Im Schützen, vor Ausgrenzung, Entwürdigung oder Überforderung – durch professionelle Aufmerksamkeit, ethische Haltung und gelebte Verantwortung.
Pflegende, die den Sinn ihrer Tätigkeit spüren, handeln nicht mechanisch, sondern mit innerer Überzeugung. Und doch ist dieser Sinn im fordernden Alltag nicht immer sichtbar. Umso wichtiger ist es, dass Führung Räume schafft, in denen Mitarbeitende über das Wozu ihres Handelns reflektieren können. Denn dort, wo Sinn bewusst gemacht und geteilt wird, entsteht Motivation, Bindung und Resilienz.
Sinn ist der Boden, auf dem Werte wachsen. Wer weiß, wofür er handelt, handelt reflektierter und entschlossener. Wer in seinem Tun Bedeutung sieht, übernimmt Verantwortung – für andere und für sich selbst. Sinn stiftet Identität, verbindet Einzelne mit dem Ganzen und macht Unternehmenskultur lebendig.
Werte – Das Fundament organisationaler Identität
Was ist uns wichtig?
Werte sind mehr als wohlklingende Begriffe in Leitbildern oder Imagebroschüren – sie bilden das normative Fundament jeder Organisation. Sie geben Orientierung in einer komplexen Welt und beantworten die Frage: Was ist uns wichtig – und woran richten wir unser Denken und Handeln aus?
Werte definieren, was in einer Organisation als richtig, wünschenswert und bedeutsam gilt. Sie wirken richtungsweisend für Entscheidungen, setzen Maßstäbe für Prioritäten und prägen das soziale Miteinander. In der Pflege sind zentrale Werte klar benennbar – etwa:
- Menschlichkeit als Grundlage für eine zugewandte, beziehungsorientierte Pflege,
- Würde als unantastbares Prinzip im Umgang mit pflegebedürftigen Menschen,
- Verantwortung als Bereitschaft, Entscheidungen zu treffen und Konsequenzen zu tragen,
- Vertrauen als Voraussetzung für gelingende Zusammenarbeit,
- Respekt vor der Individualität, Geschichte und Autonomie jedes Einzelnen,
- Transparenz als Ausdruck von Offenheit, Ehrlichkeit und Nachvollziehbarkeit im Handeln.
Diese Werte bilden gemeinsam die Identität einer Organisation – sie geben ihr ein ethisches Profil, das nach innen wie nach außen wirksam ist. Doch: Werte allein reichen nicht aus. Sie entfalten erst dann ihre Wirkung, wenn sie in Haltung übersetzt und im Verhalten konkretisiert werden. Ein Leitbild an der Wand ist kein Beweis für gelebte Kultur. Entscheidend ist, ob sich die genannten Werte im Alltag tatsächlich widerspiegeln:
- im Umgang mit Bewohner:innen, Patient:innen und Angehörigen,
- in der Art, wie Führungskräfte Entscheidungen treffen, Feedback geben oder Verantwortung delegieren,
- in der Sprache, der Konfliktkultur, der Art der Zusammenarbeit – kurz:im gelebten Miteinander.
Werte zeigen sich immer im Konkreten. Dort, wo Menschen erleben, dass das, was als wichtig bezeichnet wird, auch gelebt wird, entsteht Glaubwürdigkeit. Wo hingegen eine Diskrepanz besteht zwischen Anspruch und Wirklichkeit – etwa wenn Wertschätzung eingefordert, aber nicht gezeigt wird – entsteht Zynismus.
Für Führung bedeutet das: Wertearbeit ist keine Aufgabe der PR, sondern der täglichen Reflexion. Wer führt, trägt Verantwortung dafür, Werte nicht nur zu vermitteln, sondern vorzuleben – konsistent, sichtbar und verbindlich. Denn Kultur entsteht nicht durch Appelle, sondern durch Wiederholung. Was täglich gedacht, gesagt und getan wird, formt auf Dauer die Kultur – und macht sichtbar, wofür eine Organisation wirklich steht.
Haltung – Wie stehen wir dazu?
Haltung ist die innere Ausrichtung, mit der Menschen Werten begegnen – also die Art und Weise, wie wir zu dem stehen, was wir für richtig, wichtig und bedeutsam halten. Sie ist tief mit unserer Identität verknüpft und bestimmt unser Denken, unsere Entscheidungen und unser Verhalten. Im Unterschied zu bloßen Überzeugungen oder Meinungen zeigt sich Haltung im Tun – gerade dort, wo es schwierig wird.
In der Profession Pflege ist Haltung kein weicher Zusatz, sondern ein wesentlicher Bestandteil professionellen Handelns. Pflege ist Beziehungsarbeit – und Beziehungen sind niemals neutral. Wer professionell pflegt, steht in Kontakt mit Menschen in oft hoch vulnerablen Lebenslagen: in Krankheit, Krisen, am Lebensende. In solchen Situationen entscheidet nicht nur das Was der Pflegeleistung, sondern vor allem das Wie.
Haltung zeigt sich dabei:
- in der Sprache, die wir wählen – ob wir über Menschen sprechen oder mit ihnen,
- im Blickkontakt, in der Präsenz und Zugewandtheit im pflegerischen Alltag,
- in der Art, wie wir Entscheidungen treffen, etwa in ethisch schwierigen Situationen,
- in der Offenheit zur Reflexion, z. B. im Umgang mit eigenen Vorurteilen, Stress oder Machtverhältnissen.
Haltung ist der Filter, durch den Pflegefachpersonen ihre beruflichen Werte – etwa Würde, Verantwortung, Gerechtigkeit – konkretisieren. Wer sich zur Professionalität bekennt, übernimmt Verantwortung für die Qualität seiner Haltung. Dabei geht es nicht um Perfektion, sondern um Bewusstheit: Bin ich mir meiner Haltung bewusst? Kann ich sie begründen? Ist sie hilfreich für den Menschen, der mir anvertraut ist?
In einem Umfeld, in dem Handlungsspielräume begrenzt und Ressourcen knapp sind, wird die eigene Haltung zur wichtigsten Ressource:
- Sie entscheidet, ob ich im Stress empathisch bleibe oder funktional
werde. - Sie bestimmt, ob ich mich als Teil eines helfenden Systems verstehe
oder als Getriebene:r von Anforderungen. - Und sie prägt, wie ich mit Ohnmacht, Fehlern oder institutionellen
Grenzen umgehe.
Haltung ist nicht angeboren, sondern entwickelt sich – im Austausch mit anderen, im Spiegel der Praxis, durch gelebte Reflexion. Sie wird mitgetragen und mitgeprägt durch das professionelle Selbstverständnis, das in einer Organisation oder einem Team gelebt wird.
Deshalb ist es eine Führungsaufgabe erster Ordnung, Räume zu schaffen, in denen über Haltung gesprochen werden darf – nicht moralisierend, sondern dialogisch und ohne Wertung. Denn wo Pflegefachpersonen ihre Haltung pflegen dürfen, wächst das berufliche Selbstbewusstsein, steigt die Qualität der Beziehungsgestaltung – und entsteht jene Vertrauensbasis, auf der professionelle Pflege gelingen kann.
Verhalten – Was tun wir im Alltag?
Verhalten ist die sichtbare und erfahrbare Ebene des beruflichen Handelns. Es ist das, was andere wahrnehmen können – in Worten, Gesten, Entscheidungen und im Umgang miteinander. Während Werte und Haltung oft unsichtbar bleiben, zeigt sich Verhalten im Alltag ganz konkret: in der Art, wie gesprochen, zugehört, gehandelt oder reagiert wird.
In der professionellen Pflege hat Verhalten eine besondere Bedeutung, weil es nicht nur individuelle Wirkung entfaltet, sondern auch institutionelle Kultur prägt. Wer im Pflegealltag unterwegs ist – ob als Pflegefachperson, Auszubildende:r, Leitung oder Unterstützungskraft – steht in ständiger Beziehung: zu den Menschen, die gepflegt werden, zu Kolleg:innen, zu Angehörigen, zu anderen Berufsgruppen. Und jede dieser Beziehungen wird durch Verhalten gestaltet.
Verhalten entscheidet darüber:
- ob Werte wie Respekt und Würde erlebbar werden – oder nur proklamiert bleiben;
- ob Haltung sich im Handeln widerspiegelt – oder durch Widersprüche zwischen Anspruch und Realität untergraben wird;
- ob Vertrauen wachsen kann – oder durch Inkonsequenz und Unverbindlichkeit Schaden nimmt.
Verhalten ist das, woran wir gemessen werden. In der Pflege zum Beispiel:
- Wie sprechen wir mit Bewohner:innen oder Patient:innen – im Stehen, im Gehen, mit Zeit oder zwischen Tür und Angel?
- Wie gehen wir mit Fehlern um – werden sie zu Lernchancen oder verdeckt und verschwiegen?
- Wie geben wir Rückmeldungen – wertschätzend und klar, oder passiv-aggressiv und abwartend?
- Wie übernehmen wir Verantwortung – aktiv und lösungsorientiert oder nur dann, wenn es bequem ist?
In der professionellen Pflege ist Verhalten nie rein individuell – es hat immer eine Wirkung auf andere. Deshalb ist es entscheidend, dass Verhalten reflektiert, verantwortet und auch kontinuierlich entwickelt wird. Das betrifft alle Berufsrollen, besonders aber Führungskräfte, die durch ihr Verhalten einen hohen Vorbildcharakter haben. Ein „Ich habe das doch gesagt“ reicht nicht – entscheidend ist, ob das Gesagte auch gelebt wird.
Zudem ist Verhalten eng verknüpft mit institutionellen Rahmenbedingungen: In welchem Maßstab wird Zeit als Ressource anerkannt? Gibt es Möglichkeiten zur kollegialen Rückmeldung? Welche Verhaltensweisen werden belohnt – Engagement, Loyalität, Eigenverantwortung? Oder eher Anpassung, Schweigen, Gehorsam?
Professionelles Verhalten in der Pflege zeigt sich besonders dort, wo es keine einfachen Lösungen gibt:
- In ethisch herausfordernden Situationen,
- im Umgang mit Verhaltensauffälligkeiten,
- bei Zielkonflikten zwischen Effizienz und Empathie,
- im Spannungsfeld zwischen Nähe und professioneller Distanz.
Verhalten macht Unternehmenskultur sichtbar – in jedem Dienst, in jeder Übergabe, in jedem Gespräch. Wenn Menschen spüren, dass Verhalten und Haltung zusammenpassen, entsteht Vertrauen. Wenn Verhalten den Werten widerspricht, entsteht Unsicherheit – oder Zynismus.
Daher ist Verhalten nicht nur das Ergebnis von Persönlichkeitsmerkmalen, sondern Teil professioneller Pflegekompetenz. Es kann geschult, reflektiert, hinterfragt und verändert werden. Und genau das braucht es: In Teams, die gemeinsam über ihr Verhalten sprechen, entsteht Entwicklung. In Organisationen, die Verhalten nicht nur beobachten, sondern gemeinsam gestalten, entsteht Kultur.
Kultur – Wie wirkt das auf das Ganze zurück?
Kultur ist kein einzelner Baustein innerhalb einer Organisation – sie ist das Ganze, das durch das Zusammenspiel aller Teile entsteht. Unternehmenskultur ist das Ergebnis von gelebten Werten, innerer Haltung und alltäglichem Verhalten. Und zugleich ist sie mehr als die Summe dieser Elemente: Kultur ist das soziale Klima, das alles durchdringt, trägt – oder lähmt.
In der professionellen Pflege ist Unternehmenskultur von zentraler Bedeutung. Pflege findet immer in Beziehung statt – und Beziehungen entstehen nicht im Vakuum, sondern in einem bestimmten Klima: geprägt durch Sprache, Regeln, Erwartungen, Führungsstile und informelle Normen. Dieses Klima – also die Kultur – entscheidet letztlich darüber, wie Pflege gelebt, erlebt und empfunden wird.
Kultur wirkt immer – bewusst oder unbewusst, sichtbar oder unsichtbar:
- Sie entscheidet darüber, ob Mitarbeitende ihre Stimme erhebendürfen – oder lieber schweigen.
- Sie beeinflusst, ob Fehler offen angesprochen werden – oder vertuscht werden.
- Sie prägt, ob Teams kooperieren – oder konkurrieren.
- Und sie bestimmt, ob Pflegekräfte Sinn, Stolz und Zugehörigkeit empfinden – oder Resignation, Erschöpfung und Rückzug.
Eine entwicklungsfördernde Kultur in der Pflege zeigt sich daran, dass Menschen sich gesehen, ernst genommen und sicher fühlen. Sie erleben:
- dass sie Verantwortung übernehmen dürfen – und nicht nur delegierte Aufgaben „abarbeiten“,
- dass ihre Kompetenz zählt – und nicht bloß formale Hierarchien,
- dass ihr Beitrag geschätzt wird – nicht nur als Pflicht, sondern als wertvolle Ressource für das Ganze.
Kultur wirkt auf allen Ebenen zurück:
- Auf die Qualität der Pflegeleistungen – weil motivierte, zugewandte Pflegekräfte mehr leisten können und wollen.
- Auf die Gesundheit der Mitarbeitenden – weil Vertrauen, Wertschätzung und Sinn das Risiko von Erschöpfung und Burnout senken.
- Auf das Miteinander im Team – weil klare Werte, reflektierte Haltungen und achtsames Verhalten ein tragfähiges Wir-Gefühl erzeugen.
- Und nicht zuletzt auf die Attraktivität des Berufs – denn eine Kultur der Entwicklung und Anerkennung bindet Fachkräfte stärker als jede Bonuszahlung.
Gerade in der Pflege ist Kultur oft ungeschrieben – sie „steht nicht auf Papier, aber im Raum“. Sie zeigt sich in Übergaben, in der Pausenküche, in Fortbildungen, in der Art, wie über Bewohner:innen und Patient:innen gesprochen wird – und auch, wie über Kolleg:innen, Vorgesetzte oder Veränderungen gedacht wird.
Kultur ist lernbar, aber nicht verordenbar. Sie entwickelt sich im Alltag, durch Vorbilder, durch Entscheidungen, durch Dialoge. Deshalb ist es eine der wichtigsten Aufgaben professioneller Führung in der Pflege, diesen Prozess bewusst zu gestalten – nicht durch Kontrolle, sondern durch Haltung, Partizipation und Klarheit.
Kultur ist ein Resonanzraum. Sie antwortet auf das, was Menschen einbringen. Wo Pflegekräfte erleben, dass ihre Werte, ihre Haltung und ihr Verhalten Wirkung entfalten – auf Bewohner:innen und Patient:innen, auf Kolleg:innen, auf die Organisation – entsteht Sinn. Wo diese Rückkopplung fehlt, kommt es zu innerer Kündigung, Rückzug und Stillstand.
Eine Pflegeorganisation, die ihre Kultur aktiv pflegt, schafft nicht nur bessere Arbeitsbedingungen – sie schafft bessere Pflege. Menschlich, reflektiert, verantwortungsvoll.
Wenn alle diese beschriebenen Ebenen im Einklang stehen, entsteht Orientierung, Vertrauen und Bindung. Wenn sie auseinanderklaffen, entsteht Zynismus. Dann werden Werte zur Fassade und Kultur zum Lippenbekenntnis.
Die Angst vor Verantwortung: ein kulturelles Erbe in der Pflegeprofession
In vielen Pflegeorganisationen beobachten wir ein ambivalentes Phänomen: Mitarbeitende fordern einerseits mehr Mitbestimmung – und zugleich mehr klare Ansagen. Sie wünschen sich Gestaltungsfreiheit – und doch Sicherheit durch Anleitung. Diese Spannung ist Ausdruck biografischer Prägungen: Viele Pflegende wurden in hierarchischen Systemen sozialisiert, in denen Verantwortung sanktioniert wurde. Nicht mitdenken war oft sicherer als entscheiden. Diese Prägung lässt sich nicht per Anordnung ablegen – sie muss aktiv bearbeitet werden.
Misstrauenskultur im Gesundheitswesen
Ein systemischer Hintergrund für die verbreitete Unsicherheit liegt in der strukturell angelegten Misstrauenskultur des Gesundheitswesens:
- Prüfmechanismen, wie z.B. durch den Medizinischen Dienst, oder die Heimaufsicht, mit Sanktionslogik
- geforderte ärztliche Anordnungen bis ins Detail
- Dokumentationsdruck ohne Sinnvermittlung
Diese Logiken verhindern Eigenverantwortung. Sie fördern Regelkonformität statt Professionalität. Sie machen aus denkenden Menschen funktionierende Systeme – und schädigen damit langfristig Haltung und Motivation.
Fazit: Pflege braucht Haltung – und Räume, in denen sie wachsen darf
Professionelle Pflege gelingt dort, wo Menschen ihre Haltung leben dürfen – achtsam, verantwortungsvoll und mit einem klaren Sinn für das, was zählt. Doch Haltung entsteht nicht nebenbei. Sie braucht Raum: für Dialog, für Reflexion, für gemeinsame Entwicklung. Eine professionelle Pflegekultur entsteht, wenn Werte spürbar, Verhalten bewusst und Führung vertrauensvoll ist.
Führungskräfte tragen die Verantwortung, diese Räume zu gestalten – nicht durch Kontrolle, sondern durch Beziehung, Klarheit und Vorbild. Denn Kultur wird nicht verordnet, sie wird gelebt. Und wo Pflegekultur aktiv gepflegt wird, entsteht ein Klima, in dem Menschen sich zeigen, wachsen und wirksam werden können.
Darüber hinaus braucht es einen professionellen Schulterschluss für eine gesellschaftliche Haltungsänderung. Die Misstrauenskultur im Gesundheitswesen – mit ihrer Dominanz von Kontrolle, Nachweispflicht und hierarchischer Weisungslogik – behindert eigenverantwortliches Handeln. Die Pflegeprofession muss sich dafür einsetzen, dass Vertrauen zur neuen Währung im System wird: durch klare Haltung, berufspolitische Präsenz und gemeinsames Eintreten für Rahmenbedingungen, in denen professionelle Pflege nicht nur stattfindet, sondern sich entfalten kann.
Diskussion