Chronische Lebererkrankungen gehören zu den am stärksten wachsenden Volkskrankheiten in Europa. Metabolische Faktoren wie Adipositas, Diabetes, Hyperlipidämie, aber auch Alkoholkonsum, Autoimmunprozesse oder virale Infektionen führen zu einem Anstieg von Zirrhosen und hepatologischen Komplikationen. Parallel wächst die Komplexität therapeutischer Optionen. Neue zielgerichtete Therapien, Leitlinien, Risikostratifizierungen, Screeningverfahren und multidisziplinäre Abläufe verlangen nach präziser Koordination, enger Begleitung und einem strukturierten Selbstmanagement der Patient:innen. Genau an dieser Schnittstelle positioniert sich ein neues pflegerisches Rollenmodell, das in Österreich durch engagierte Expert:innen vorangetrieben wird: die Liver Care Nurse als spezialisierte Advanced Practice Nurse (APN) im Bereich der Hepatologie.

Zu Gast im Podcast sind Martina Fellinghauer, Leitung einer internistischen Station im AKH Wien sowie Mitglied in mehreren Fachverbänden, und Denise Schäfer, Advanced Practice Nurse am Ordensklinikum Linz und Mitglied der Europäischen Gesellschaft für Leberstudien. Beide eint eine berufliche Vision: evidenzbasierte, spezialisierte Pflege, die Versorgungslücken schließt, gesundheitliche Selbstbestimmung stärkt und gleichzeitig Prozesse im Gesundheitssystem nachhaltig verbessert.

Hepatologie als komplexer Versorgungsbereich

Lebererkrankungen sind in der klinischen Realität selten eindimensionale Diagnosen. Sie gehören zu den Erkrankungen mit der größten Heterogenität:

  • metabolisch-assoziierte Fettleber
  • alkoholbedingte Erkrankungen
  • autoimmune oder genetische Ursachen
  • virale Erkrankungen (z. B. Hepatitisformen)
  • Folgen chronischer Schädigung mit Entwicklung einer Zirrhose
  • Risiko des hepatozellulären Karzinoms
  • häufige Komplikationen wie Aszites, Varizenblutungen, Infektionen oder hepatische Enzephalopathie

Diese Vielfalt bringt nicht nur medizinische Herausforderungen mit sich, sondern erzeugt auch pflegerische Anforderungen, die über klassische Versorgung hinausgehen. Viele Patient:innen benötigen eine kontinuierliche Ansprechperson, weil sich die Symptomatik häufig schleichend entwickelt und psychosoziale Belastungen groß sind. Die Erkrankung beeinträchtigt nicht nur körperliche Funktionen, sondern das gesamte Alltagsleben und das familiäre System. Gleichzeitig fehlt, wie beide Gesprächspartnerinnen betonen, die strukturelle Verankerung spezialisierter Schulungen im Aus-, Fort- und Weiterbildungssystem.

Als Fellinghauer und Schäfer feststellten, dass es trotz eines großen Bedarfs weder in Österreich noch international ausreichende pflegerische Spezialisierungsangebote für die Versorgung dieser Patient:innen gibt, folgte die Entscheidung, selbst eine entsprechende Rolle aufzubauen: die Liver Care Nurse.

Advanced Practice Nursing in Österreich – ein dynamisches, aber unvollständiges System

Österreich beschäftigt sich seit rund 15 Jahren mit Advanced Nursing Practice. APN-Studiengänge existieren an Universitäten und Fachhochschulen, das Verständnis orientiert sich am ICN-Standard: eine Pflegefachperson mit konsekutivem Masterabschluss, klinischer Expertise, Entscheidungskompetenz, erweiterten Fertigkeiten und Fähigkeit zur eigenständigen Gestaltung von Versorgungsabläufen. Doch trotz zahlreicher Initiativen – etwa dem 2024 veröffentlichten österreichischen ANP-Rahmenkonzept – fehlt ein zentraler Baustein: ein gesetzlich geschützter Titel und eine klare tarifliche Zuordnung.

Advanced Practice Nurses | ÖGKV
Ziele und Aufgaben … Das Ziel der Bundesexpertengruppe Advanced Practice Nurses (APN) ist es, die berufsrechtlichen Grundlagen für Advanced Nursing Practice (ANP) in Österreich zu fördern und die…

Das bedeutet: Pflegefachpersonen erwerben Kompetenzen, dürfen sie aber nicht immer strukturell verankert ausüben. Schäfers Rolle am Ordensklinikum entstand deshalb nicht über eine offizielle Stellenbeschreibung, sondern über die Bereitschaft einer Bereichsleitung, eine offene Stelle umzufunktionieren und eine klinische Spezialisierung zu ermöglichen. Diese pragmatische Lösung illustriert die Arbeitsrealität vieler APNs in Österreich – und zugleich den Pioniercharakter der Entwicklung.

Die Implementierung erfolgte nicht top-down, sondern bewusst als Bottom-up-Modell: Mit Interviews, Workshops und interprofessionellen Abstimmungen wurde festgelegt, was die Rolle leisten soll, welche Outcomes erwartet werden und wo Schnittstellen liegen. Diese frühe Einbindung der beteiligten Berufsgruppen erwies sich als entscheidend für Akzeptanz und Wirksamkeit.

„Ich sage immer: Meine Oberärztin kümmert sich um das Organ – und ich kümmere mich um den Menschen im Erleben und Bewältigen der Erkrankung.“ - Denise Schäfer

Alltag einer Liver Care Nurse: Kontinuität, Clinical Assessment und interprofessionelle Koordination

Die Liver Care Nurse übernimmt Aufgaben, die bisher häufig zwischen Berufsgruppen oder entlang von Prozessgrenzen verloren gingen:

  • kontinuierliche Ansprechpartnerin für Patient:innen und Zugehörige
  • Clinical Assessments (z. B. Symptommanagement, Sturzrisiko, Ernährungsstatus, Alkoholgefährdung, psychische Belastung)
  • Erstellung individueller Behandlungs- und Beratungspläne
  • Schulungen zum Selbstmanagement (z. B. korrekte Medikamenteneinnahme, Prävention der hepatischen Enzephalopathie)
  • Koordination komplexer Abläufe (z. B. Vorbereitung auf Transplantationen)
  • Vernetzung mit Diätologie, Psychologie, Physiotherapie, Sozialdienst und extramuralen Angeboten
  • Durchführung standardisierter Untersuchungen gemäß interner Absprachen
  • Erkennen ethischer Fragestellungen und Einleiten multiprofessioneller Familiengespräche
  • fachliche Weiterentwicklung des Versorgungsmodells sowie eigene Forschung

Dabei verschiebt sich der Fokus deutlich:
Die Medizin konzentriert sich stark auf Diagnosen, Befunde und therapeutische Entscheidungen. Die Liver Care Nurse befasst sich mit dem Erleben der Erkrankung, strukturiert Informationen, erkennt Risiken frühzeitig, gleicht Versorgungslücken aus und stärkt Autonomie. Diese Rolle schafft Kontinuität in einer Versorgung, die aufgrund wechselnder Dienst- und Personalkonstellationen oft fragmentiert ist.

Ein Beispiel aus der Praxis verdeutlicht die Relevanz: Nach Schulungen zur Früherkennung hepatischer Enzephalopathie reduzierten sich ungeplante stationäre Aufnahmen drastisch. Viele Situationen, die früher zu Unsicherheit und Überforderung, Stürzen, aggressiven Verhaltensweisen oder aufwändigen Interventionen führten, lassen sich heute verhindern. Patient:innen erkennen Frühzeichen, handeln gezielt, wenden Medikation korrekt an und wissen, wann sie Kontakt aufnehmen müssen.

Verbesserte Outcomes

Die Implementierung der Liver Care Nurse zeigt an mehreren Stellen messbare Verbesserungen:

1. Reduktion ungeplanter Krankenhausaufnahmen

Durch Beratung und Schulungen sank die Zahl der stationären Aufnahmen aufgrund hepatischer Enzephalopathie erheblich. Patient:innen und Angehörige erkennen frühe Symptome, wenden Therapieempfehlungen konsequent an und suchen frühzeitig Kontakt.

2. Deutliche Verkürzung der Liegedauer

Insbesondere bei komplexen Verläufen oder nach Transplantationen zeigt sich ein klarer Effekt. Am Ordensklinikum Linz liegt die Liegedauer auf Intensiv- und Bettenstation zum Teil deutlich unter nationalen Vergleichswerten. Das hängt mit einem systematisch entwickelten Rehabilitationsprogramm zusammen, das körperliche und edukative Elemente vereint.

3. Höhere Gesundheitskompetenz und stärkere Selbstwirksamkeit

Patient:innen verstehen ihre Erkrankung, erkennen die Bedeutung von Medikamenten, vermeiden Therapieabbrüche und erleben mehr Kontrolle über den Verlauf. Angehörige profitieren ebenfalls und übernehmen eine aktivere Rolle in der frühen Symptomwahrnehmung.

4. Strukturierte, ethisch fundierte Entscheidungsprozesse

Gemeinsame Familiengespräche mit allen Berufsgruppen ermöglichen ein abgestimmtes Vorgehen in komplexen Situationen, etwa bei Endstadien chronischer Erkrankungen. So sinkt der Moral Distress der Pflegefachpersonen, weil Entscheidungen nicht mehr unklar, verzögert oder widersprüchlich erfolgen.

5. Entlastung der Pflege- und Ärzteteams

Stationspflegepersonen berichten, dass sie durch die spezialisierte Rolle mehr Zeit für direkte pflegerische Aufgaben gewinnen und gleichzeitig fachlich sicherer werden. Ärzt:innen erleben weniger organisatorische Doppelbelastungen und profitieren von klaren Assessments sowie besser vorbereiteten Patient:innen.

„Unsere Patient:innen brauchen eine Ansprechperson, die all diese Schnittstellen zusammenführt und im Sinne der Betroffenen agiert. Genau hier liegt die große Aufgabe der Liver Care Nurse.“ - Martina Fellinghauer

Professionalisierung und Empowerment der Teamstrukturen

Die Einführung der Liver Care Nurse veränderte auch das pflegerische Selbstverständnis. Pflegefachpersonen erleben, wie spezialisierte Kolleg:innen im Dialog mit Medizin, Psychologie, Sozialdienst und Diätologie eigenständig argumentieren und Entscheidungen fundiert begründen. Das stärkt die Wahrnehmung der eigenen Profession als wissenschaftlich arbeitende, patient:innenorientierte, handlungsfähige Disziplin.

Auch intern, so berichten die Gesprächspartnerinnen, stieg die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen – etwa wenn es um das frühzeitige Einbinden der Palliativversorgung geht. Pflegefachpersonen profitieren von kollegialen Beratungsformaten, gemeinsamen Fallbesprechungen und strukturierten Schulungen, die wiederum durch die APN entwickelt werden.

Politische Dimensionen

Trotz des Erfolgs steht die Implementation auf politisch unsicheren Füßen. Ohne Titelschutz bleibt unklar, wie APN-Stellen finanziert, tariflich eingeordnet oder rechtlich geschützt sind. Das erschwert standardisierte Stellenausschreibungen und hemmt Skalierbarkeit. Gleichzeitig hängt der Erfolg auch von der Bereitschaft der Institutionen ab, strukturelle Ressourcen bereitzustellen – Zeit, Finanzierung für Assessments, Datenzugänge, Forschungskapazitäten.

Auf der anderen Seite entstehen durch die nachweisbaren Effekte neue Argumentationslinien. Verkürzte Liegedauern, weniger Komplikationen und bessere Koordination sind nicht nur ein Gewinn für Patient:innen, sondern entlasten Kliniken finanziell. Diese Effekte werden zunehmend sichtbar und erzeugen politischen Druck, die Rolle offiziell zu verankern.

Von der Weiterbildung zum Masterabschluss

Ein zentrales Ziel von Martina und Denise ist die Entwicklung einer eigenständigen Fachkarriere für Liver Care Nurses. Diese soll drei Stufen umfassen:

  1. Bachelor Pflege (Grundausbildung)
  2. Weiterbildung/Fachweiterbildung Liver Care Nursing (Clinical Nurse Specialist)
  3. konsekutiver Master in Advanced Nursing Practice (APN)

Erst auf Basis klar definierter Aufgaben, Tätigkeitsbereiche und Kompetenzniveaus lässt sich ein Curriculum entwickeln, das bundesweit standardisiert angeboten werden kann. Die beiden Expertinnen arbeiten bereits an einem Rahmenkonzept, das innerhalb von zwölf Monaten entstehen soll und den Grundstein für eine strukturierte Qualifizierung legt.

Parallel entsteht ein österreichweites Netzwerk aus spezialisierten Pflegefachpersonen, unabhängig davon, ob sie bereits ein APN-Studium abgeschlossen haben. Ziel ist ein gemeinsamer Wissenspool, der Erfahrung bündelt und neue Kolleg:innen befähigt, ähnliche Rollen in ihren Einrichtungen aufzubauen.

„Es ist oft nicht die große Medizin, die den Unterschied macht, sondern die Kontinuität. Eine Person, die den roten Faden hält – das verändert die Versorgung spürbar.“ - Denise Schäfer

Barrieren und Schlüsselstrategien für die Implementierung

Die Einführung einer APN-Rolle ist kein linearer Prozess. Rückschläge, Widerstände und institutionelle Hürden sind Teil des Weges. Aus der Episode lassen sich zentrale Erfolgsfaktoren ableiten:

  • Interprofessionelle Einbindung von Beginn an: Rollenakzeptanz entsteht, wenn Teams verstehen, welche Probleme die APN löst – und was sie nicht übernimmt.
  • Transparente Kommunikation mit Pflege- und Ärzteteams: Das senkt die Angst vor Hierarchieverschiebungen und klärt Verantwortlichkeiten.
  • Nachweisbare Outcomes: Daten zu Liegedauer, Komplikationen, Gesundheitskompetenz oder ungeplanten Aufnahmen sind unverzichtbar.
  • Kontinuierliche Weiterbildung und Forschung: Nur durch fortlaufende Evidenz lässt sich eine Rolle langfristig stabilisieren.
  • Netzwerke und Mentor:innen: Internationaler Austausch beschleunigt Entwicklung und stärkt Professionalität.
  • Durchhaltevermögen: Struktureller Wandel braucht Zeit, politische Geduld und persönliche Motivation.

Was diese Entwicklung für die Pflege bedeutet

Die Liver Care Nurse ist kein Einzelfall, sondern ein Beispiel dafür, wie Pflege in hochspezialisierten Bereichen Versorgung strukturell verbessern kann. Chronische Erkrankungen nehmen in allen europäischen Gesundheitssystemen zu, während Ressourcen sinken. Eine Rolle, die auf Selbstmanagement, Koordination, Prävention, Beratung und kontinuierlicher Begleitung basiert, schließt genau dort Versorgungslücken, die mit klassischen Modellen nicht auffangbar sind.

Gleichzeitig zeigt sie, wie Pflegefachpersonen wissenschaftlich arbeiten, klinische Expertise aufbauen und multidisziplinäre Prozesse steuern können – vorausgesetzt, die Systeme geben ihnen den entsprechenden Rahmen. Die Episode macht deutlich: Spezialisierung ist keine Konkurrenz zur Generalistik, sondern deren notwendige Ergänzung. Generalistische Pflege bleibt unverzichtbar, aber komplexe Erkrankungen benötigen spezifisches Wissen, das nur über eigenständige Fachkarrieren entstehen kann.

Zum Weiterlesen

  • Barfod O'Connell, Malene; Brødsgaard, Anne; Matthè, Maria; Hobolth, Lise; Wullum, Laus; Bendtsen, Flemming; Kimer, Nina (2024): A randomized controlled trial of a postdischarge nursing intervention for patients with decompensated cirrhosis. In: Hepatology communications 8 (5). DOI: 10.1097/HC9.0000000000000418
  • Fabrellas, Núria; Künzler-Heule, Patrizia; Olofson, Amy; Jack, Kathryn; Carol, Marta (2023): Nursing care for patients with cirrhosis. In: Journal of hepatology 79 (1), S. 218–225. DOI: 10.1016/j.jhep.2023.01.029
  • Hjorth, M.; Sjöberg, D.; Kaminsky, E.; Svanberg, A.; Langenskiöld, S.; Rorsman, F. (2018): Nurse-led clinic for liver cirrhotic patients: Effects on health-related quality of life. In: Journal of hepatology 68, S368-S369. DOI: 10.1016/S0168-8278(18)30964-4
  • Kalo, Eric; Baig, Asma; Gregg, Emily; George, Jacob; Read, Scott; Ma, Wai-See; Ahlenstiel, Golo (2023): A novel, nurse-led 'one stop' clinic for patients with liver cirrhosis results in fewer liver-related unplanned readmissions and improved survival. In: BMC gastroenterology 23 (1), S. 356. DOI: 10.1186/s12876-023-02986-y
  • Saleh, Zachary M.; Bloom, Patricia P.; Grzyb, Katie; Tapper, Elliot B. (2021): How Do Patients With Cirrhosis and Their Caregivers Learn About and Manage Their Health? A Review and Qualitative Study. In: Hepatology communications 5 (2), S. 168–176. DOI: 10.1002/hep4.1621
  • Valery, Patricia C.; Bernardes, Christina M.; Mckillen, Benjamin; Amarasena, Samath; Stuart, Katherine A.; Hartel, Gunter et al. (2021): The Patient's Perspective in Cirrhosis: Unmet Supportive Care Needs Differ by Disease Severity, Etiology, and Age. In: Hepatology communications 5 (5), S. 891–905. DOI: 10.1002/hep4.1681
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