Die vergessene Profession der Sprechstundenschwestern in der DDR

Die Geschichte der Pflege in Deutschland wird oft auf Entwicklungen im Westen reduziert. Dabei existierte in der DDR ein komplexes, staatlich organisiertes Gesundheitssystem mit eigenen Professionen, Versorgungsstrukturen und Ausbildungswegen. Eine dieser kaum bekannten Professionen ist die der Sprechstundenschwester – eine Rolle, die im ambulanten Versorgungsbereich eine zentrale Bedeutung hatte, jedoch nach der Wiedervereinigung weitgehend unsichtbar wurde. Dagmar Möbius, die selbst als Sprechstundenschwester arbeitete und heute journalistisch sowie wissenschaftlich zu dem Thema forscht, hat diese vergessene Pflegegeschichte aufgearbeitet. Ihr Erfahrungswissen und ihre Recherchen bilden die Grundlage für diesen Beitrag.

Fachschulausbildung als pflegerische Hochschulbildung

Ab 1974 wurde in der DDR eine standardisierte medizinische Fachschulausbildung für 16 verschiedene Gesundheitsberufe eingeführt. Im Unterschied zur heutigen Ausbildung waren die Curricula zentral geregelt, wurden in Potsdam entwickelt und galten für alle Bezirke einheitlich. Die Ausbildung zur Sprechstundenschwester – oder korrekt: zur Sprechstundenassistentin – war auf drei Jahre ausgelegt und umfasste sowohl theoretische Grundlagen als auch praktische Einsätze in stationären und ambulanten Einrichtungen. Die Inhalte reichten von medizinischer Diagnostik über pflegerische Maßnahmen bis hin zu administrativen Aufgaben. Damit war die Ausbildung umfassend und interdisziplinär angelegt. Besonders bemerkenswert: Der Beruf wurde explizit als Teil der Pflege verstanden – gleichrangig mit anderen pflegerischen Berufen wie Krankenschwester oder Kinderkrankenschwester. Die Idee, Pflege ausschließlich als stationäre Versorgung zu denken, war der DDR fremd.

"Unsere Ausbildung war kein Nebenschauplatz, sondern eine vollwertige Fachqualifikation."
- Dagmar Möbius

Die Sprechstundenschwester als Antwort auf den Personalmangel

Die Einführung der Ausbildung war kein Selbstzweck, sondern die gezielte Reaktion auf einen strukturellen Mangel: Pflegefachpersonen verließen häufig nach der Familiengründung den Schichtdienst in der stationären Versorgung. Der Schichtbetrieb war nur schwer mit der – wenn auch gut ausgebauten – Kinderbetreuung zu vereinbaren. Um zu verhindern, dass gut qualifiziertes Personal vollständig aus dem Gesundheitswesen verschwand, wurde ein eigenständiger Beruf für die ambulante Versorgung geschaffen. Die Sprechstundenschwestern arbeiteten überwiegend in Polikliniken, wo sie unter anderem Spritzen setzten, Infusionen legten, Verbände anlegten und bei kleineren operativen Eingriffen assistierten. Ihre Tätigkeit war weit mehr als bloßes Zuarbeiten: Sie organisierten die Abläufe, hatten Patient:innenkontakt auf Augenhöhe und trugen maßgeblich zur Kontinuität der Versorgung bei. Das Berufsbild war funktional zwischen Medizin und Pflege angesiedelt – vergleichbar mit heutigen Pflegefachpersonen oder Physician Assistants.

Die Poliklinik als interprofessionelles Zentrum

Die Arbeitsumgebung der Sprechstundenschwestern war die Poliklinik – ein Konzept, das seiner Zeit weit voraus war. Hier arbeiteten Allgemeinmediziner:innen, Fachärzt:innen, Radiolog:innen, Physiotherapeut:innen und Pflegefachpersonen unter einem Dach. Anders als im heutigen, stark fragmentierten Versorgungssystem bot die Poliklinik gebündelte Expertise, kurze Wege und eine engmaschige, sektorübergreifende Betreuung. Sprechstundenschwestern waren in diesem Kontext weit mehr als medizinische Fachangestellte: Sie hielten die Kommunikation zwischen den Berufsgruppen aufrecht, koordinierten Behandlungsverläufe und sorgten für eine effektive Nutzung begrenzter Ressourcen. Diese Form der Versorgung wird heute als Vorbild für moderne Gesundheitszentren diskutiert – insbesondere im Kontext von Community Health Nursing und integrierten Versorgungsmodellen.

Der Systembruch und die Folgen für eine ganze Berufsgruppe

Mit der politischen Wende kam der Systembruch – und mit ihm der Verlust ganzer Berufsbiografien. Die Sprechstundenschwestern wurden im Einigungsvertrag nicht berücksichtigt. Während viele andere Gesundheitsberufe in ein westdeutsches Äquivalent überführt wurden, fiel ihr Beruf zwischen alle Raster. Sie wurden häufig nicht anerkannt, mussten sich mit prekären Arbeitsverhältnissen oder degradierenden Umschulungen abfinden. So berichtet Dagmar Möbius von der "Herabqualifizierung" zur Arzthelferin, obwohl ihre Ausbildung und Berufspraxis deutlich über diesem Niveau lagen. Viele Kolleginnen wurden nie wieder in qualifikationsgerechter Position beschäftigt. Die Folge: massive Einkommensverluste, reduzierte Rentenansprüche, psychologische Belastung – und die bittere Erkenntnis, dass ihre berufliche Lebensleistung im gesamtdeutschen System keinen Platz hatte.

Die juristische Anerkennung kam zu spät

Die juristische und gesellschaftliche Nicht-Anerkennung hatte weitreichende Folgen. Viele ehemalige Sprechstundenschwestern arbeiten bis heute unterhalb ihrer formalen Qualifikation, einige sogar als ungelernt oder auf Hilfskraftniveau. Dabei verrichten sie häufig Tätigkeiten, die vergleichbar mit denen ausgebildeter Pflegefachpersonen sind. Die 2019 durch das Bundesgesundheitsministerium ausgesprochene Anerkennung der Ausbildung kam für die meisten zu spät – sei es wegen des Alters, des Berufsausstiegs oder weil sie keine Möglichkeit hatten, beruflich wieder Fuß zu fassen. Die Anerkennung bleibt daher symbolisch. Und doch ist sie wichtig: Sie dokumentiert, dass die Ausbildung sehr wohl dem westdeutschen Niveau entsprach – ein Befund, der viel zu lange ignoriert wurde.

"Wenn du heute diesen Beruf angibst, kommt er in keinem System vor. Das ist Diskriminierung durch Unsichtbarkeit."
- Dagmar Möbius
Deutscher Bundestag: Aufwertung von Ost-Sprechstundenschwestern “dringend erforderlich”

Geschichtliche Aufarbeitung ist auch berufspolitische Verantwortung

Trotz des faktischen Endes der Berufsgruppe ist ihre Geschichte keineswegs abgeschlossen. Die Aufarbeitung ist ein Akt der Sichtbarmachung und eine Form des Widerstands gegen strukturelle Diskriminierung. Es geht dabei um mehr als nostalgische Erinnerung. Es geht um Anerkennung, Gerechtigkeit und ein kollektives Lernen für zukünftige Entscheidungen in der Berufspolitik. Die Arbeit von Dagmar Möbius ist ein Beispiel für engagierte Wissenschaftskommunikation aus der Praxis heraus: durch Archive, Interviews, eigene Erfahrungen und politische Analysen. Ihre Stimme steht stellvertretend für viele – und sie zeigt, wie wichtig es ist, dass Pflegegeschichte mehrstimmig erzählt wird.

"Ich bin keine Nostalgikerin, aber ich weiß, was ich gekonnt habe – und was man mir genommen hat."
- Dagmar Möbius

Pflegefachlichkeit misst sich nicht allein am Abschluss

Die Diskussion um Anerkennung führt unweigerlich zu einer grundsätzlichen Frage: Was macht eine Pflegefachperson aus? Ist es allein das staatlich anerkannte Examen? Oder zählen auch Erfahrungswissen, interprofessionelle Kompetenz und soziale Intelligenz? Die Sprechstundenschwestern der DDR haben eine Antwort darauf gegeben – durch ihr tägliches Handeln. Sie haben gezeigt, dass Pflege weit über klassische Settings hinauswirkt: in der Prävention, in der Gemeinwesenarbeit, in der koordinativen Rolle zwischen Medizin und Alltag. Ihr Wirken liefert damit Impulse für aktuelle Diskussionen um neue Rollenprofile, Aufgabenverteilungen und pflegepolitische Reformen.


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