Pflege gestaltet mit
Die Herausforderungen des deutschen Gesundheitswesens sind so vielfältig wie die Menschen, die darin arbeiten. Fachkräftemangel, demografischer Wandel, chronische Erkrankungen und eine zunehmend fragmentierte Versorgung machen deutlich: Eine effektive und patient:innenzentrierte Gesundheitsversorgung kann nur gelingen, wenn alle Gesundheitsberufe ihre Kompetenzen einbringen. Insbesondere Pflegefachpersonen spielen dabei eine zentrale Rolle.
Doch wie kann diese Rolle systematisch gestärkt werden? Und wie gelingt eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe in einem komplexen Versorgungssystem? Der Übergabepodcast hat mit Dr. Bernadette Klapper vom Deutschen Berufsverband für Pflegeberufe (DBfK) und Prof. Dr. Lutz Hager vom Bundesverband Managed Care (BMC) gesprochen. Im Zentrum: das Impulspapier "Versorgen im Continuum of Care". Es bietet nicht nur eine inhaltliche Vision, sondern fordert strukturelle Antworten auf systemische Probleme.

Das Konzept des Continuum of Care
Das Continuum of Care ist mehr als ein Schlagwort. Es beschreibt ein Zielbild, das die gesamte Versorgungskette in den Blick nimmt – von der Prävention über die Akutversorgung bis zur Rehabilitation, Pflege und Palliativversorgung. Dabei geht es nicht um eine lineare Kette, sondern um ineinandergreifende Versorgungsepisoden, die sich an den Bedarfen von Patient:innen orientieren. Der Fokus liegt auf der Kontinuität – von Information, Beziehung und Koordination.
Für Pflegefachpersonen bedeutet das, ihre Rolle nicht nur punktuell, sondern prozesshaft wahrzunehmen. Das heißt: Pflege beginnt nicht im Krankenhaus und endet nicht bei der Entlassung. Sie begleitet, koordiniert und trägt Verantwortung entlang des gesamten Versorgungswegs. Dabei werden Pflegefachpersonen zu Brückenbauer:innen zwischen Sektoren, Disziplinen und individuellen Lebenswelten.

Pflege muss Verantwortung übernehmen
Ein zentrales Thema des Gesprächs ist die Frage nach Verantwortung. Dr. Klapper betont: Berufszufriedenheit hängt auch davon ab, Verantwortung übernehmen zu dürfen. Pflegefachpersonen, die Entscheidungen treffen, Prozesse gestalten und selbstwirksam handeln, erleben ihren Beruf nicht als reines Abarbeiten, sondern als professionelle Praxis mit Gestaltungsmacht.
"Ich bin überzeugt, dass Verantwortung ein Schlüssel für Berufszufriedenheit ist." – Dr. Bernadette Klapper
Die derzeitigen rechtlichen und organisatorischen Strukturen stehen dem jedoch oft entgegen. Der sogenannte Arztvorbehalt, unklare Kompetenzverteilungen und überkommene Hierarchien behindern eine eigenverantwortliche Pflegepraxis.
Das Pflegekompetenzgesetz soll hier einen Wendepunkt markieren. Es erlaubt nicht nur, sondern fordert pflegerische Verantwortung ein. Eine historische Chance, Pflege neu zu denken: als eigenständige Profession mit klar definiertem Handlungsrahmen, die auf Augenhöhe mit anderen Gesundheitsberufen agiert.
Interprofessionelle Teams - Gemeinsame Sprache und gemeinsame Ziele
Die Zusammenarbeit zwischen den Gesundheitsberufen ist im Alltag oft brüchig. Unterschiedliche Begrifflichkeiten, divergierende Ausbildungswege und getrennte Vergütungssysteme erschweren eine echte Kooperation. Prof. Hager verweist auf die Notwendigkeit einer gemeinsamen Sprache: Nur wenn Pflegefachpersonen, Ärzt:innen, Therapeut:innen und andere Berufsgruppen ein gemeinsames Verständnis entwickeln, kann eine effektive Teamarbeit im Sinne der Patient:innen gelingen.
Das Konzept des "Team Gesundheit" zielt genau darauf ab. Es beschreibt keine feste Struktur, sondern ein dynamisches Kooperationsmodell. Dabei stehen nicht Hierarchien im Vordergrund, sondern Bedarfe und Gesundheitsziele. Kommunikation, geteilte Verantwortung und eine kooperative Kultur bilden das Fundament für dieses neue Miteinander. Das ist insbesondere in komplexen Versorgungssituationen – etwa bei Multimorbidität oder chronischen Erkrankungen – unabdingbar.
Interprofessionelles Lernen verankern
Interprofessionelle Zusammenarbeit beginnt nicht erst im Berufsalltag, sondern muss bereits in der Ausbildung angelegt sein. In Deutschland klafft hier jedoch eine große Lücke. Medizinstudium an Universitäten, Pflegeausbildung an Fachschulen, wenig Austausch, kaum gemeinsame Module: Das fördert weder gegenseitiges Verständnis noch kollegiales Vertrauen.
"Gesundheitsversorgung funktioniert nicht als 'Weiter so'. Wir brauchen neue Möglichkeitsräume." – Prof. Dr. Lutz Hager
Dr. Klapper und Prof. Hager fordern deshalb gemeinsame Lernorte und verbindliche interprofessionelle Ausbildungsinhalte. Pilotprojekte wie interprofessionelle Ausbildungsstationen oder Studiengänge zeigen, dass es anders geht – wenn der Wille zur strukturellen Veränderung da ist. Die Integration gemeinsamer Lernphasen muss aus dem Projektstatus herauskommen und Teil regulärer Curricula werden.
Pflege als akademische Disziplin
Ein entscheidender Baustein für gleichberechtigte Zusammenarbeit ist die Akademisierung der Pflege. Akademisch ausgebildete Pflegefachpersonen bringen nicht nur ein vertieftes Verständnis für komplexe Versorgungssituationen mit, sondern auch eine wissenschaftliche Perspektive, die im interprofessionellen Diskurs Gewicht hat. Damit einher geht eine veränderte Selbstwahrnehmung: weg von der Assistenz, hin zur eigenverantwortlichen Gesundheitsprofession.
Zugleich wirft die Erweiterung pflegerischer Rollen neue Fragen auf: Wo beginnt Pflege? Wo endet sie? Welche Aufgaben sollen zukünftig delegiert, welche eigenverantwortlich übernommen werden? Die Diskussion um die erweiterte Heilkunde und das Pflegekompetenzgesetz zeigt: Die Pflege muss ihre eigenen Zuständigkeiten definieren und diese auch nach außen vertreten.
APNs, Community Health Nurses und neue Rollenmodelle
Rollen wie die Advanced Practice Nurse (APN) oder die Community Health Nurse (CHN) stehen exemplarisch für den Wandel in der Pflege. Sie verknüpfen vertiefte klinische Expertise mit einer erweiterten Versorgungsverantwortung. APNs etwa könnten in Pflegeheimen eigenständig Entscheidungen treffen, Notfälle frühzeitig erkennen und durch ihr Fachwissen Klinikaufenthalte vermeiden. Community Health Nurses wiederum agieren im Quartier, beraten, koordinieren und sorgen für die gesundheitliche Stabilität vulnerabler Gruppen.
Solche Modelle funktionieren allerdings nur, wenn sie gesetzlich abgesichert, finanziert und in die bestehenden Versorgungsstrukturen integriert sind. Pflegefachpersonen brauchen klare Rollendefinitionen, Zugang zu Fort- und Weiterbildungen und institutionelle Rückenstärkung. Nur so können sie ihre Potenziale voll entfalten.
"Pflegeprozesse müssen nicht bei der Aufnahme beginnen, sondern fortgeführt werden." – Dr. Bernadette Klapper
Digitalisierung und ePA
Digitale Werkzeuge wie die elektronische Patientenakte (ePA) können interprofessionelle Zusammenarbeit erleichtern – oder behindern. Derzeit gleicht die ePA eher einem Datensilo als einem echten Kooperationsinstrument. Was fehlt, ist eine intuitive, strukturierte und sektorenübergreifende Plattform, die allen Berufsgruppen einen schnellen, umfassenden Zugriff ermöglicht.
Die Vision: Eine ePA, die als dynamisches Dashboard funktioniert. Pflege-, Therapie- und Medikationsdaten werden transparent gebündelt, Bedarfe sichtbar gemacht, Prozesse dokumentiert. So können Informationen nicht nur gespeichert, sondern in konkrete Versorgungsentscheidungen überführt werden. Eine solche ePA wäre das digitale Pendant zum Continuum of Care – und eine Brücke zwischen Sektoren, Berufen und Versorgungsebenen.
Zeit für neue Vergütungsmodelle
Interprofessionelle Zusammenarbeit scheitert oft nicht am Willen, sondern am System. Vergütungslogiken, die Einzelleistungen belohnen und Kooperation erschweren, verhindern kooperative Versorgungsmodelle. Wenn Teamarbeit nicht honoriert wird, bleibt sie die Ausnahme.
Prof. Hager plädiert für neue Anreizsysteme: Regionale Gesundheitsbudgets, Komplexpauschalen oder shared savings Modelle könnten echte Teamversorgung fördern. Beispiele wie die SAPV oder geriatrische Versorgungspauschalen belegen: Wenn Finanzierung patient:innenzentriert gedacht wird, funktioniert Zusammenarbeit besser. Es braucht politische und institutionelle Rahmenbedingungen, die Kooperation nicht nur erlauben, sondern einfordern.
Pflege ist bereit, Verantwortung zu übernehmen
Das Impulspapier "Versorgen im Continuum of Care" liefert nicht nur Denkanstöße, sondern konkrete Perspektiven. Es zeigt: Pflege ist längst bereit, mehr Verantwortung zu übernehmen. Was fehlt, sind die strukturellen Voraussetzungen, um diese Verantwortung auch zu leben.
Pflegefachpersonen bringen Kompetenz, Erfahrung und Engagement mit. Wenn sie Gestaltungsspielräume erhalten, kann das Gesundheitswesen resilienter, menschlicher und effizienter werden. Jetzt ist es an der Politik, der Wissenschaft und den Institutionen, die Weichen so zu stellen, dass interprofessionelle Versorgung keine Vision bleibt, sondern Alltag wird.
Diskussion zur generalistischen Pflegeausbildung - in eigener Sache
In Episode 168 haben wir gemeinsam mit Dr. Markus Wochnik und Daniel Großmann die BENP-Studie vorgestellt und den aktuellen Stand der generalistischen Pflegeausbildung beleuchtet. Die Forschung ist eindeutig – doch die Reaktionen waren es nicht. Viele haben uns per Mail oder über Social Media ihre Kritik mitgeteilt. Oft emotional, meistens destruktiv. Ihr könnt die Episode hier nachhören.
Obwohl wir mehrfach zur Diskussion eingeladen haben – per Mail, DM und in den sozialen Medien – blieb der konstruktive Austausch aus. Viele Kommentare sind inzwischen kaum sichtbar, die meisten Mails bereits im Archiv. Das ist schade. Denn wir glauben: Nur wenn wir unsere Perspektiven teilen, können wir voneinander lernen.
Daher noch einmal ganz klar:
Unser Community-Forum steht offen – für euch, für Diskussion, für Ideen.
Ob Kritik zur Generalistik, Fragen aus der Praxis, Haus- oder Forschungsarbeiten, Veranstaltungen, Ideen, Jobangebote & Jobsuche, Pflegeprobleme: Alles hat Platz. Die Kommentarspalte ersetzt kein Gespräch. Mails helfen oft nur uns. Das Forum hilft allen.
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