Von unsichtbar zu unverzichtbar: Warum Frauen 50+ die Pflege stärken
In einer Zeit, in der Fachkräftemangel, Transformation der Arbeitswelt und ein wachsender Pflegenotstand das Gesundheitswesen dominieren, gibt es eine Gruppe, die häufig übersehen wird – Frauen ab 50. Dabei tragen genau diese Pflegefachpersonen mit ihrer Erfahrung, Empathie und Loyalität maßgeblich zur Stabilität und Qualität in der Pflege bei. Das Projekt „Von unsichtbar zu unverzichtbar“ rückt diese oft unsichtbare Zielgruppe in den Fokus und gibt ihr eine Stimme.
Eine Ressource mit Potenzial: Frauen 50+ im Gesundheitswesen
Pflege ist ein weiblich dominierter Beruf. Doch während junge Pflegefachpersonen im Employer Branding vieler Einrichtungen sichtbar im Vordergrund stehen, bleibt eine große Zahl berufserfahrener Frauen jenseits der 50 im Schatten. Das Projekt „Von unsichtbar zu unverzichtbar“ beleuchtet diese Zielgruppe genauer – mit dem Ziel, ihren Beitrag sichtbar zu machen und Handlungsempfehlungen für Arbeitgeber:innen im Gesundheitswesen zu geben.
Das Forschungsprojekt, durchgeführt von Marie-Luise Gaßmann und Prof.in Dr.in Ruth Anna Weber vom Steinbeis Institut in Marburg, vereint qualitative und quantitative Methoden. Grundlage war ein Mixed-Methods-Design, bei dem 509 Pflegefachpersonen über 50 aus sechs Einrichtungen befragt wurden – ergänzt durch Interviews mit Personalverantwortlichen. Das Ergebnis: eine dichte und valide Datenlage zu einer Ressource, die bislang kaum beachtet wurde.

Die häufigsten Missverständnisse: Technikfeindlich, überfordert, Auslaufmodell?
Ein zentrales Ergebnis der Studie war die Diskrepanz zwischen Fremd- und Selbstwahrnehmung. Während viele Führungspersonen annahmen, Frauen 50+ hätten Schwierigkeiten mit Technik, belegen die Befragungen das Gegenteil. Vorausgesetzt, Schulungen sind sinnvoll gestaltet und digitale Anwendungen stiften echten Nutzen, sind ältere Pflegefachpersonen hoch motiviert, sich einzuarbeiten.
„Ich weiß, dass ich gut bin, aber ich habe aufgehört, es zeigen zu wollen, weil es niemanden interessiert.“ - Marie-Luise Gaßmann
Damit wird ein weit verbreitetes Vorurteil entkräftet: Frauen 50+ sind keineswegs technikavers, sondern pragmatisch. Sie wollen verstehen, wofür ein neues Tool gut ist – und bringen dann ihre langjährige Berufserfahrung mit ein, um dessen Einsatz sinnvoll und nutzer:innenfreundlich zu gestalten. Die Befragung zeigt klar: Technik ja – aber nicht um ihrer selbst willen.
Arbeitszeitmodelle neu denken: Flexibilität ist keine Frage des Alters
Ein weiteres zentrales Ergebnis: Der Wunsch nach flexibleren Arbeitsmodellen ist altersunabhängig. Während junge Pflegefachpersonen nach familienfreundlichen Schichten suchen, möchten viele Kolleginnen 50+ etwa für die Betreuung von Enkelkindern oder zur Pflege Angehöriger flexibler planen können.
Lebensphasenorientierte Arbeitsgestaltung bedeutet, individuelle Bedürfnisse ernst zu nehmen – unabhängig davon, ob jemand 30 oder 60 Jahre alt ist. Hier zeigt sich ein strukturelles Versäumnis in vielen Einrichtungen: Es gibt kaum systematisierte Angebote für ältere Mitarbeitende, obwohl genau diese Gruppe durch ihre Loyalität und Erfahrung hohe Bindungspotenziale bietet.
In Episode 157 des Übergabe-Podcasts haben wir bereits angeschaut, wie eine lebensphsengerechte Personalplanung gelingen kann:

Mehr als Pflege: Emotionale Arbeit und stille Leistungsträger:innen
Viele der befragten Frauen übernehmen weit mehr als die reine Pflegearbeit. Sie sind emotionale Anker im Team, geben Sicherheit und Orientierung – vor allem in krisenhaften Situationen wie der Pandemie. Diese Form emotionaler Arbeit ist hochrelevant für die Teamstabilität, bleibt jedoch oft unsichtbar und wird nicht entlohnt.
„Wir sind loyal, belastbar und empathisch – aber wir wollen nicht nur funktionieren, sondern mitgestalten.“ - Prof. Dr. Ruth Anna
Weber
Die Studie zeigt: Frauen 50+ leisten einen immensen Beitrag zur Resilienz von Pflegeteams. Sie bringen Ruhe, Reflexion und Erfahrungswissen ein. Doch Wertschätzung – sowohl finanziell als auch im Alltag – bleibt meist aus. Was gebraucht wird, sind gezielte Ansätze, um diese emotionale Arbeit sichtbar zu machen und zu honorieren.
Gesundheitsförderung heißt: Richtig hinschauen
Gesundheitsförderung wird im Pflegekontext oft auf Rückenschulen, Obstkörbe und Yoga-Kurse reduziert. Doch was brauchen Frauen 50+ wirklich? Die Befragten formulierten klare Erwartungen: ergonomische Arbeitsplätze, gezielte Prävention statt Symptombehandlung und eine Kultur, in der Belastung kommuniziert werden darf.
Zudem äußerten viele den Wunsch, dass gesundheitliche Maßnahmen nicht nur als symbolische Gesten wahrgenommen werden, sondern tatsächlich eine individuelle Entlastung im Arbeitsalltag bringen. Hier liegt ein hohes Innovationspotenzial für das betriebliche Gesundheitsmanagement – wenn es gelingt, standardisierte Angebote durch bedarfsorientierte Konzepte zu ersetzen.
Alter(n) als Vorteil: Warum Altersdiversität ein Qualitätsmerkmal ist
Pflegeeinrichtungen, die Vielfalt ernst nehmen, können von altersgemischten Teams massiv profitieren. Frauen 50+ bringen nicht nur Expertise, sondern auch Geduld, Kommunikationsstärke und eine hohe soziale Kompetenz mit – Eigenschaften, die für die Versorgung vulnerabler Patient:innengruppen unerlässlich sind.
Zugleich wirken ältere Mitarbeitende stabilisierend in Transformationsprozessen – etwa bei der Einführung neuer Technologien oder der Umstrukturierung hin zu ambulanten Versorgungsformen. Altersdiversität ist damit kein Nice-to-have, sondern ein zentrales Qualitätsmerkmal moderner Pflegeeinrichtungen.
Internationale Perspektiven: Lernen von Kanada, den Niederlanden und der Schweiz
Ein Blick ins Ausland zeigt: Andere Länder sind Deutschland in Sachen Altersinklusion teils deutlich voraus. In Kanada etwa existieren „Older Worker Programs“, die Karriereplanung jenseits der 50 systematisch unterstützen – mit gezielter Weiterbildung, angepassten Arbeitszeitmodellen und digitaler Kompetenzförderung.
Die Niederlande setzen auf ein Netzwerk, das gezielt ältere Beschäftigte anspricht, Weiterbildungsmaßnahmen anbietet und zur Entlastung beiträgt – auch im Gesundheitssektor. Und in der Schweiz wird Altersvielfalt aktiv gefördert: Hier entstehen gezielte Angebote zur Teammoderation in altersgemischten Pflegeeinheiten.
Diese Beispiele machen Mut – und zeigen, dass politisch und institutionell gestaltete Maßnahmen wirken können, wenn sie den Menschen in den Mittelpunkt stellen.
Handlungsempfehlungen für Arbeitgeber:innen im Gesundheitswesen
- Sichtbarkeit fördern: Frauen 50+ sollten gezielt in internen Kampagnen und im Employer Branding sichtbar gemacht werden. Erfahrungswissen ist ein Imagegewinn.
- Gesundheit ernst nehmen: Betriebliche Gesundheitsförderung muss individualisierter, präventiver und stärker dialogorientiert gestaltet werden.
- Weiterbildung ermöglichen: Digitale Kompetenzen, neue Rollenbilder und karrierebegleitende Angebote sollten auch für ältere Mitarbeitende zugänglich sein – ohne Hürden.
- Flexible Arbeitszeitmodelle anbieten: Arbeitszeiten sollten mit biografischen Rhythmen vereinbar sein – dazu braucht es mehr Mitsprache, Wahlmöglichkeiten und Kreativität.
- Wertschätzung sichtbar machen: Anerkennung darf nicht abstrakt bleiben – Lob, Einbindung in Entscheidungen und gezielte Beteiligung stärken die Motivation.
Fazit: Die Zukunft ist altersdivers – wenn wir es wollen
Die Ergebnisse des Projekts „Von unsichtbar zu unverzichtbar“ zeigen eindrucksvoll: Frauen 50+ sind eine tragende Säule des Gesundheitswesens. Wer ihren Beitrag ignoriert, verschenkt Potenzial. Wer sie aber ernst nimmt, aktiv einbindet und ihnen Entwicklung ermöglicht, wird mit Loyalität, Stabilität und Erfahrung belohnt.
Nicht das biologische Alter entscheidet über Kompetenz, sondern Haltung, Unterstützung und Rahmenbedingungen. Für eine zukunftsfähige Pflege braucht es also nicht nur Nachwuchsgewinnung, sondern auch das aktive Sichtbarmachen und Einbinden erfahrener Pflegefachpersonen.
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