Palliative Pflege auf der Intensivstation
Die Intensivstation ist der Ort, an dem Medizin an ihre Grenzen kommt – und Pflege besonders gefordert ist. Maschinen sichern Leben, Monitore blinken, Beatmungsgeräte arbeiten im Takt. Doch was passiert, wenn all das nicht mehr reicht? Wenn das Ziel nicht länger Heilung ist, sondern Würde, Begleitung, Ruhe? Genau hier setzt die palliative Pflege an – auch, und vielleicht gerade, in der Hochtechnologie der Intensivmedizin.
Pflegefachpersonen erleben auf Intensivstationen täglich, wie nah Leben und Sterben beieinanderliegen. Sie sind die Konstante am Bett, begleiten Menschen über Stunden, Tage, manchmal Wochen – und sind oft diejenigen, die zuerst spüren, wenn sich die Perspektive verschiebt: vom Kampf um jede Stunde hin zum Abschiednehmen.
Zwischen Beatmungsschlauch und Menschlichkeit
Für Annemarie Röthig begann die Auseinandersetzung mit der palliativen Pflege aus persönlicher und professioneller Erfahrung. Sie arbeitete selbst viele Jahre auf Intensivstationen – zunächst fasziniert von der Technik, später zunehmend geprägt von den Begegnungen mit Sterbenden. Die Corona-Pandemie wurde für sie zum Wendepunkt. Als ihre Station in eine COVID-Intensivstation umgewandelt wurde, erlebte sie hautnah, wie Patient:innen isoliert starben – ohne Nähe der Angehörigen. „Da läuft etwas falsch“, dachte sie damals. Aus dieser Erfahrung entstand die Idee für ihre Masterarbeit an der Universität Halle.
Ein blinder Fleck der Intensivpflege
Während die Medizin längst Leitlinien für palliative Versorgung kennt, fehlt im pflegerischen Bereich eine systematische Übersicht. Röthig stieß bei ihrer Recherche schnell auf eine Lücke: Es gibt kaum Instrumente, die den Ist-Zustand palliativer Pflege in der Intensivversorgung erfassen. Zwar existiert eine S3-Leitlinie für Palliativmedizin, sie richtet sich jedoch ausschließlich an Patient:innen mit nicht heilbaren Krebserkrankungen – und fokussiert dabei vor allem medizinische Interventionen. Pflegerische Perspektiven bleiben weitgehend unberücksichtigt.
Annemarie Röthig wollte das ändern. In ihrer Masterarbeit entwickelte sie ein Erhebungsinstrument, das erstmals systematisch erfasst, welche palliativen Maßnahmen Pflegefachpersonen auf Intensivstationen anwenden.
Forschung mit Praxisbezug: Ein Fragebogen für die Pflege
Die Grundlage bildete eine umfangreiche Literaturrecherche nach dem Scoping-Review-Framework des Joanna Briggs Institute. Mehr als 1600 Studien sichtete sie, 339 davon flossen in ihre Auswertung ein. Aus der Analyse entstand ein dreiteiliges Kategoriensystem:
- Patient:innenbezogene Interventionen – also Interventionen zur Linderung physischer, psychischer, sozialer und spiritueller Belastungen.
- Angehörigenbezogene Interventionen, etwa Begleitung, Kommunikation oder Integration in den Pflegeprozess.
- Teambezogene Interventionen, die strukturelle und interprofessionelle Zusammenarbeit betreffen.
Auf Basis dieser Kategorien konstruierte Annemarie Röthig einen Fragebogen mit 140 Items. Das Instrument wurde anschließend in einem zweistufigen Pretest-Verfahren nach Prüfer & Rexroth erprobt: zunächst durch kognitive Interviews mit Intensivpflegenden, anschließend in einer Online-Befragung. Ziel war es, Verständlichkeit, Relevanz und Umsetzbarkeit zu prüfen.
Was Intensivpflegende wirklich tun
Auch wenn die Stichprobe klein war, zeigte sich ein deutliches Muster: Pflegefachpersonen führen vor allem patient:innenbezogene Maßnahmen regelmäßig durch. Dazu gehören pharmakologische Schmerztherapie, Schlafhygiene oder einfache, aber wirksame Anpassungen im Stationsalltag – etwa Untersuchungen nicht mitten in der Nacht durchzuführen, um Ruhephasen zu ermöglichen.
Weniger etabliert sind Angehörigen- und Teammaßnahmen. So werden Angehörige selten aktiv in die Pflege eingebunden, etwa über Intensivtagebücher oder strukturierte Gespräche. Und obwohl es Gesprächsleitfäden für schwierige Situationen gibt, kennen viele Pflegende sie gar nicht.
Besonders auffällig: Pflegefachpersonen sehen sich selbst häufig in der Verantwortung, palliative Werte in den Behandlungsalltag einzubringen – stoßen dabei jedoch an strukturelle Grenzen.
Verantwortung vs. Realität
Pflegende erleben oft den inneren Widerspruch zwischen Wissen und Machbarkeit. Sie wissen, dass palliative Maßnahmen die Lebensqualität verbessern – für Patient:innen, Angehörige und das Team. Doch Zeitdruck, Personalmangel und starre Zuständigkeiten lassen diesen Anspruch häufig scheitern. Wenn eine Pflegefachperson im Nachtdienst versucht, ein ruhiges Umfeld zu schaffen, aber gleichzeitig mehrere kritisch Kranke versorgen muss, wird deutlich: Palliative Pflege braucht Strukturen, die sie ermöglichen. Hinzu kommt ein systemisches Problem: In vielen Kliniken dürfen nur Ärzt:innen Konsile anfordern – Pflegende haben keinen Zugriff auf die digitalen Systeme, um selbst Unterstützung vom Palliativteam oder Ethikkomitee zu initiieren. So bleibt ihr Beitrag auf informelle Kommunikation beschränkt.
Technik als Partner, nicht als Gegner
In der Diskussion um Intensivpflege wird häufig ein Gegensatz konstruiert: hier die kalte Technik, dort die warme Menschlichkeit. Annemarie Röthigs Forschung zeigt, dass diese Trennung zu kurz greift. Technologie ist in der palliativen Versorgung nicht das Problem – sondern das Umfeld, in dem sie angewendet wird.
Wenn Beatmung, Dialyse und ECMO nicht länger Lebenszeit, sondern Leiden verlängern, braucht es Menschen, die innehalten, hinterfragen und neu bewerten. Pflegefachpersonen sind hier entscheidend: Sie verbringen mehr Zeit bei Patient:innen als andere Berufsgruppen. Sie kennen die Patient:innen, ihre Routinen, ihre Angehörigen. Sie spüren, wann es genug ist.
Palliative Kompetenz als Bestandteil von Intensivpflege
Annemarie Röthig betont, dass Palliativpflege auf Intensivstationen nicht erst am Lebensende beginnt. Vielmehr sollte sie integraler Bestandteil jeder Behandlung sein, sobald absehbar ist, dass eine Erkrankung nicht heilbar ist oder schwere Einschränkungen bleiben.
Internationale Definitionen erweitern den Begriff Palliative Care längst über das Sterben hinaus. Sie sprechen von „health-related suffering due to severe illness“, also Leid infolge schwerer Erkrankung – unabhängig davon, ob der Tod unmittelbar bevorsteht.
Das bedeutet: Palliative Pflege ist nicht das Ende der Therapie, sondern Teil guter Versorgung. Gerade auf Intensivstationen, wo Krankheit oft existenzielle Dimensionen annimmt, kann sie den entscheidenden Unterschied machen – zwischen einem Überleben um jeden Preis und einem würdevollen Abschied.
Angehörige sind Teil der Versorgung
Eine intensive Auseinandersetzung widmete Annemarie Röthig der Rolle von Angehörigen. Während einige Stationen – etwa jene mit dem Zertifikat Angehörigenfreundliche Intensivstation – bereits 24-Stunden-Besuche und Mitgestaltung ermöglichen, bleibt das vielerorts Ausnahme.
Angehörige profitieren erheblich von aktiver Einbindung. Wenn sie verstehen, was passiert, wenn sie an Entscheidungen teilhaben und Verantwortung übernehmen dürfen, sinkt ihre Belastung – und die Kommunikation zwischen Team und Familie verbessert sich. Palliative Pflege bedeutet hier, nicht nur für Patient:innen, sondern auch für deren soziales Umfeld zu sorgen.
Zum Thema Kommunikation auf Intensivstationen haben wir bereits ein Briefing in unserer Datenbank.

Außerdem gibt es diesen wertvollen Podcast zu Erfahrungen auf der Intensivstation mit Dr. Sabine Walther und Brigitte Teigeler:

Trauerarbeit – auch für Teams
Ein Aspekt, der in Annemarie Röthigs Arbeit besonders deutlich wurde, betrifft die emotionale Nachsorge. Wenn Patient:innen versterben, endet der Prozess für Pflegende oft abrupt. Die Geräte werden abgeschaltet, das Zimmer vorbereitet – und dann geht es weiter mit der nächsten Aufnahme. In Hospizen oder Palliativstationen gibt es Rituale: Abschiedsbücher, Nachgespräche, Gedenkfeiern. Auf Intensivstationen fehlen solche Formen meist völlig. Dabei zeigt die Wissenschaft, dass Rituale und Reflexion die Trauerbelastung von Pflegefachpersonen reduzieren und die Teamkohäsion stärken.
Annemarie Röthig plädiert daher für mehr Trauerkultur im klinischen Alltag – nicht nur für Angehörige, sondern auch für Pflegende.
Zwischen Forschung und Veränderung
Annemarie Röthigs Fragebogen ist kein abstraktes Wissenschaftsprojekt, sondern ein Werkzeug für Praxisentwicklung. Er kann Kliniken helfen, den Stand palliativer Pflege sichtbar zu machen, Defizite zu erkennen und gezielt Fortbildungen oder Strukturen zu entwickeln. Ein Einsatz wäre sowohl intern (zur Standortbestimmung einzelner Stationen) als auch überregional möglich, etwa um Vergleichsdaten zu generieren: Wie „palliativfreundlich“ ist eine Intensivstation? Welche Konzepte wirken, welche fehlen? Langfristig könnte daraus eine nationale Datengrundlage entstehen – ähnlich wie bei Qualitätsindikatoren – um die Versorgungsqualität am Lebensende messbar zu machen.
Wenn Pflege sichtbar wird
Was Röthigs Arbeit besonders macht, ist nicht nur die wissenschaftliche Präzision, sondern ihr Ursprung in der Praxis. Sie verbindet Empirie mit Empathie, Forschung mit Fürsorge. Denn letztlich zeigt sich in der palliativen Pflege, was Pflege im Kern ausmacht: Beziehungsgestaltung.
Sie übersetzen medizinische Entscheidungen, schaffen Momente der Ruhe, auch mitten im Alarmton. Und sie tragen das Erlebte weiter.
Palliative Pflege auf der Intensivstation ist daher nicht nur ein Thema für Fachweiterbildungen, sondern ein Spiegel dafür, wie wir als Gesellschaft mit Sterben umgehen.
Zwischen Ideal und Wirklichkeit
Natürlich bleibt der Abstand zwischen Anspruch und Alltag groß. Zeitmangel, Überlastung, Personalknappheit – all das sind reale Hürden. Aber Annemarie Röthigs Forschung zeigt auch: Viele Pflegefachpersonen wollen palliative Prinzipien leben. Sie tun es bereits, im Kleinen, unspektakulär, oft unbemerkt.
Die Frage ist also weniger, ob palliative Pflege auf der Intensivstation möglich ist – sondern wie wir sie ermöglichen. Vielleicht beginnt sie nicht mit einem neuen Gerät, sondern mit einer einfachen Frage:
Was braucht dieser Mensch jetzt wirklich – und was kann ich dazu beitragen?
Weiterführende Informationen / Literatur
- S3-Leitlinie Palliativmedizin-Kurzversion
- Scoping Reviews - Resources vom JBI
- WHO Palliative care
- Mobilität und Bettlägerigkeit (Dr. Angelika Zegelin) - Podcast der Übergabe
- Leitlinien für die Gesundheitsversorgung - Video der Übergabe
- Leitlinien in der Pflege (Prof. Dr. E. Sirsch & Prof. Dr. D. Holle) - Podcast der Übergabe
- 1.3 Total-Pain-Modell
- Link zu Annemarie Röthig
- Avidan, A., Sprung, C. L., Schefold, J. C., Ricou, B., Hartog, C. S., Nates, J. L., Jaschinski, U., Lobo, S. M., Joynt, G. M., Lesieur, O., Weiss, M., Antonelli, M., Bülow, H.‑H., Bocci, M. G., Robertsen, A., Anstey, M. H., Estébanez-Montiel, B., Lautrette, A., Gruber, A., Estella, A., Mullick, S., Sreedharan, R., Michalsen, A., Feldman, C., Tisljar, K., Posch, M., Ovu, S., Tamowicz, B., Demoule, A., DeKeyser Ganz, F., Pargger, H., Noto, A., Metnitz, P., Zubek, L., La Guardia, V. de, Danbury, C. M., Szűcs, O., Protti, A., Filipe, M., Simpson, S. Q., Green, C., Giannini, A. M., Soliman, I. W., Piras, C., Caser, E. B., Hache-Marliere, M. & Mentzelopoulos, S. D. (2021). Variations in end-of-life practices in intensive care units worldwide (Ethicus-2): a prospective observational study. The Lancet. Respiratory medicine, 9(10), 1101–1110. https://doi.org/10.1016/S2213-2600(21)00261-7
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- Peters, M. D. J., Godfrey, C., McInerney, P., Munn, Z., Tricco, A. C. & Khalil, H. (2024). Scoping reviews. JBI. https://synthesismanual.jbi.global
- Prüfer, P. & Rexroth, M. (2000). Zwei-Phasen-Pretesting. Zentrum für Umfragen, Methoden und Analysen -ZUMA.
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